24. Januar 2016

Buchauszug III: Gelassen stieg die Nacht an Land! - Gelassenheit ist im Rahmen einer Interpretation eine wichtige Tugend!

Sie kommt auch durch Sicherheit, die man durch Bücher wie dieses und eigenes Üben - das ist natürlich sehr hilfreich - gewinnt.

Zunächst hast Du im Rahmen der Lektüre die Möglichkeit, Dich mit der formalen und inhaltlichen Seite eines Gedichtes zu beschäftigen, hier einem Gedicht Eduard Mörikes mit dem Titel Um Mitternacht, das beginnt:

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
      Und kecker rauschen die Quellen hervor,
      Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
            Vom Tage,
      Vom heute gewesenen Tage.

Bei diesem Gedicht auf S. 82 hast Du als Leser schon einige Erfahrung und deshalb beginnen meine Ausführungen:

Kein Zweifel, Du wirst den Kehrreim bemerkt haben, die Tatsache, dass sich die beiden letzten Verse wiederholen. Und wo wir dabei sind: Die Quellen und singen wiederholen sich auch (vgl. I,5f.; II,5f.).
Vielleicht hast Du Dir auch das Klingen der Himmelsbläue vorgestellt, dann hast Du diese eindrucksvolle Synästhesie erkannt, wobei das nicht die einzige Stelle ist, in deren Rahmen mehrere Sinne angesprochen werden, denn in I,3 ist einerseits vom sehenden Auge die Rede und in I,4 andererseits vom stillen Ruhen der Waage; dann jedoch endet die Stille unmittelbar, denn das lyrische Ich sieht die Quellen und vernimmt deren Rauschen und Singen.

Immer wieder sind die Sinne wechselweise angesprochen.

Vielleicht wirst Du, als ich das lyrische Ich ansprach, gedacht haben: Nanu, hab´ ich da was übersehen?
Nein, das hast Du nicht, es kommt nicht vor, und doch ist es anwesend, wie ich finde, z. B. in seinem Bewerten der Situation, dass nämlich die Quellen das Wort behalten, diese keck-frechen Kinder der Mutter Nacht. Wobei es kein Fehler ist, wenn Du vom Autor sprichst, der das so gestaltet. Aber Du weißt - und wirst Dich vielleicht noch an die Anmerkung erinnern -, dass wir dem Autor eine Distanz gönnen wollen, vor allem, wenn Meinungen und Sichtweisen vertreten werden. In der Prosa schafft, wie angesprochen, ein möglicher Er-Erzähler eine Distanz zwischen Leser und Autor, in der Lyrik - um es ruhig noch einmal zu wiederholen - ist es das lyrische Ich, das zwischen den Leser/Hörer und den Dichter tritt, weil der Mensch, der hier schrieb, möglicherweise gar nicht wirklich so denkt oder Dinge so sieht, sondern sich ausprobiert oder sich in jemanden hineinversetzt. Ein Dichter lebt ja viele Leben in seinen Texten - und wir tun das auch, und ohne dass wir es merken, macht uns das reicher.

Aber ich gehe fast eine Wette ein, all das war nicht das Erste, was Dir aufgefallen ist, denn dieses Gedicht ist für mich DAS Paradebeispiel für eine Personifikation. Ehrlich gesagt, bewundere ich Eduard Mörike für diesen Anfang. Was wirft allein die erste Zeile für ein majestätisches Bild auf unseren inneren Monitor: Gelassen steigt die Nacht an Land!

Und dann dieser Kunstgriff Mörikes, mit diesem Partizip Perfekt zu beginnen: Gelassen. - Einfach stark!

Mörike schwankte eine Zeit lang, das Gedicht nicht mit Gelassen, sondern mit Bedächtig beginnen zu lassen. Gott sei Dank kehrte er zu Gelassen zurück.

Oben Angesprochenes könntest Du auch anlässlich einer Gedichtinterpretation schreiben, denn sie umfasst ja, wie wir bereits wissen, nicht nur ein Aufzählen von metrischen und formalen Gegebenheiten - schrecklich ist, wenn sich letztere verselbständigen -, sondern darf auch eine Art Essay sein, wenn Du Dich zurückerinnerst.

Ohnehin gilt es zu wissen, dass jede Interpretation anders aussehen kann. Es können metrische und formale Aspekte dominieren, ein andermal kann der essayistische Ton überwiegen. Man darf sich keinem Zwang unterwerfen, und wenn Du eine Interpretation schreibst, wird auch Dein Lehrer oder ein unbeteiligter Leser DEINEM Schreiben folgen; das gehört zum Respekt, den man einem Schreibenden entgegenbringt - wie Du das gegenüber dem Dichter tust -, dass man sich also darauf einlässt, welche Schwerpunkte ER setzt; nur wenn sie offensichtlich falsch gesetzt sind, wenn Wichtiges nicht genannt oder Formales kaum berührt wird, dann ist das Anlass zur Kritik.

Doch in Bezug auf jedes Gedicht gibt es eine gewisse Bandbreite, was man als Schreibender präferiert, also bevorzugt, und was man gegebenenfalls vernachlässigt.

Was ich Dir aber unbedingt noch einmal ins Gedächtnis rufen möchte, ist - und das vereinigt ja alle Interpretationen zu einem Gedicht -, dass unsere eigene Meinung nicht zählt, in erster Linie nicht, in zweiter Linie nicht, in dritter Linie nicht.

Entscheidend ist, was der Dichter schreibt, wie er die Welt sieht, wie er die Natur darstellt, in welcher Stimmung er ist (. . .)


In der formalen Analyse ist Dir eine tabellarische Darstellung behilflich, wobei im Buch Hebungen und Senkungen noch markiert sind, die hier nicht darstellbar sind.


Qual
Reim
Kad
Heb
E. Mörike, Um Mitternacht (I, 1-4)
r
a
m
4
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
r
a
m
4
Lehnt träumend an der Berge Wand,
kur
b
m
5
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun
kur
b
m
5
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
 

Im Rahmen dieses Gedichtes biete ich dem Leser in der Folge eine Art der Einleitung unter den acht zu einem früheren Zeitpunkt genannten Möglichkeiten an mit einem grundsätzlich wichtigen Übergang in den Hauptteil - hier also zunächst die Einleitung:

Mitternacht ist eine magische Zeit. Die Stunde von Schlag 12 bis 1 Uhr ist die Geisterstunde, in der die Toten ihre Gräber verlassen und auf dem Friedhof tanzen, wie wir aus Goethes Ballade Der Totentanz wissen. Dort wäre diese Zeitspanne für einen Türmer fast zum Verhängnis geworden, weil jener sich des Hemdchens eines Geistes, der sein Totenhemd ausgezogen hatte und gerade nackt zwischen den Gräbern tanzte, bemächtigt hatte. Kurz vor 1 Uhr wollte der Geist aber sein Hemdchen wiederhaben und rückte dem Türmer näher und näher. Gerade noch rechtzeitig schlug es 1 Uhr und das Gerippe zerschellte. 
Die vormitternächtliche Zeit ruft uns ins Bett. Ist aber der Zeiger über die Zwölf hinweg, dann beginnt jene Zeit der Nacht, in der wir oft wahrnehmen, wie still die Welt ist und wie schön es manchmal ist, diese Stille zu genießen. Da ist es unser Geist, der zur Ruhe kommt. - Auch so kann Geist wirken.
Eduard Mörike, der sich in bemerkenswerten Gedichten immer wieder den Tageszeiten zugewandt hat, z.B. in jenem Gedicht, das er als 21-Jähriger schrieb, überschrieben „An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang”, in weiteren, überschrieben „In der Frühe”, „Ein Stündlein wohl vor Tage” oder auch „Nachts am Schreibepult”, titelte sein Gedicht Um Mitternacht.

Das ist nicht Punkt Mitternacht. Wir werden sehen, wie weit das „Um” reicht.  
Faszinierend zunächst ist der Einstieg mit einem Wort, das unglaublichen Raum beansprucht: „Gelassen”. Wenn jemand das Gedicht vorträgt, lässt er dieses Wort, so stelle ich mir vor, für eine Weile im Raum schweben. - Dann aber kommt die Nacht ins Spiel. Und wie! Wir erfahren, dass sie aus dem Wasser kam, vermutlich dem Meer entstieg.
Wie majestätisch mag das geschehen sein! Ein richtiger Film kann da in unserem Inneren ablaufen, in dem die Nacht womöglich einen wehenden Mantel umhat, von dem noch eine ganze Weile das Wasser abperlt.
Nun - und damit sind wir bei einer weiteren bemerkenswerten Auffälligkeit dieses Gedichtauftaktes - lehnt sie an der Berge Wand. 
Das „stieg” (I,1) war einmal. Und doch vermochte womöglich die eine Zeile, die erste Zeile, uns einen ganzen Roman zu erzählen, eine Welt voller Bilder zu suggerieren.
Eine Zeile weiter aber sehen wir die Nacht vor uns, wie sie träumt. Es ist Gegenwart.

Und es reicht nicht ein Berg, um Wand für sie sein zu können. Nein, sie bedarf „der Berge Wand” (I,2). Sie lehnt an allen zugleich.
So ist die Nacht!
Eindrucksvoller kann sie kaum Gestalt annehmen, und die vorliegende Personifikation ist eine ausgesprochen imposante. 
Wie konnte jemals jemand annehmen, Nacht sei einfach nur eine Tageszeit. Nein, Nacht ist ein Wesen, dem das Meer gewogen ist, denn offensichtlich darf sie in dessen Fluten eintauchen und ihnen wieder entsteigen, und dem auch die Berge gewogen sind, die sich womöglich sogar geehrt fühlen, dass sie sich gegen ihre Wand lehnt.

Es ist im Folgenden, als ob ein lyrisches Ich, das sich sprachlich gar nicht zeigt, unser Augenmerk auf „Ihr Auge“ (I,3) lenkt. Ja, es ist von nur einem Auge die Rede (. . .)


Mittels dieser Beispiele wird der Leser immer wieder darauf gelenkt, wie man stilistisch eine Interpretation abfassen kann und wie sehr es auf die detailgenaue Betrachtung des Textes ankommt.
Nach einer solchen Interpretation sieht man die Mitternacht mit anderen Augen.

Das ist auch der Sinn solch einer Interpretation. Sie verändert unser Bewusstsein, lässt uns Dinge neu sehen!



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