25. Januar 2016

Buchauszug I: Ein ganz entscheidender erster Schritt!


  • Vollziehe alles nicht nur gedanklich, sondern vor allem bildlich nach, was das Gedicht vorgibt! 
  • Stelle Dir also alles wie eine Dia-, eine Bild-Reihe vor!

Du wirst es nicht glauben: Dieser Punkt ist der allerwichtigste im Rahmen einer Interpretation. Und wenn Du Dir alles vorstellst, wird Dir sofort ganz Wesentliches in Bezug auf das Gedicht, das Du interpretierst, klar sein!
Nehmen wir als Beispiel die erste Strophe von Manche Nacht, einem Gedicht von Richard Dehmel (1863-1920):

Wenn die Felder sich verdunkeln.
fühl ich, wird mein Auge heller;
schon versucht ein Stern zu funkeln,
und die Grillen wispern schneller.


Du siehst die Felder? 
Stelle Dir Felder vor!
Du siehst in einer Bildfolge, wie die Felder zunehmend dunkler werden.
Du fühlst Dein Auge?
Dehmel spricht von einem Auge, nicht von zweien; sei da ganz gewissenhaft! 
Du fühlst, dass es heller wird.
Vielleicht geht es Dir wie mir: Ich habe so etwas noch nie gefühlt, aber das Ich des Gedichtes - man nennt es lyrisches Ich - fühlt es.
Das ist Fakt und ausschlaggebend.
Manchmal hat man eine schwache Empfindung für etwas; es mag einfach eine leise Irritation sein, und man neigt dazu, über sie hinwegzugehen. Man lässt sie dann nicht wirklich ins Bewusstsein dringen.
Das könnte auch hier der Fall sein. Wenn Du über solch eine Empfindung, eine leise Wahrnehmung also, hinweggehst, kann es sein, dass sie nicht mehr auftaucht.
Nimm deshalb solche schwachen Stupser Deines Inneren ernst! Dann melden sie sich auch mit der Zeit deutlicher. 
Hier z. B. würde Dir in der Tat durchaus Wichtiges entgehen. Dazu später mehr. 
Möglich ist übrigens auch, dass Du dieses Gefühl, dass das Auge heller wird, kennst; vielleicht benennst Du es nur anders.
Mache einfach nach dem Vers ein Fragezeichen oder ein Ausrufezeichen. Oder beides :-) 
Du siehst zum ersten Mal, was das exakte gedankliche Vorstellen bringt! Sonst wäre Obiges womöglich nicht in Dein Bewusstsein vorgedrungen.
Der Stern - auch hier ist nur von einem einzelnen die Rede - funkelt nicht, er versucht zu funkeln.
Da muss er sich richtig bemühen. Stell Dir das bitte vor!
Hörst Du die Grillen zirpen - nein, wispern (Z. 4) steht da.
Sie wispern schneller!
Ist das unangenehm in Deiner Vorstellung? Wird alles aufgeregter? Oder einfach intensiver?
Meine Güte, ganz schön was los in dieser ersten Strophe!
Wenn Du all das so vor Dir siehst und in Dir fühlst, bist Du genau auf dem richtigen Weg!
Geheimnisse - vor allem auf dieser frühen Stufe - nicht irgendetwas in die Worte, in die Verse hinein, was nicht dasteht. Nimm genau das, was Du vorfindest!

Verse und Zeilen meinen übrigens im Rahmen eines Gedichtes dasselbe. Ich persönlich spreche im Rahmen von traditionell gestalteten Gedichten, also solchen, die ein erkennbares Metrum haben und gereimt sind, in der Regel von Versen, bei solchen ohne Metrum und Reim von Zeilen.

Das ist der Einstieg zu diesem Buch. Er ist gewiss nicht schwierig, manchem mag er fast ein wenig läppisch vorgenommen - aber weit gefehlt: Er ist sehr wichtig und die Basis für alles weitere Vorgehen. - Es wird schon noch anspruchsvoller, keine Bange :-)

Auch bei diesem Gedicht erhältst Du beispielhafte Hilfen für einen guten Stil, gekonnte Überleitungen und Anderes mehr, wenn ich beispielhaft den Beginn des Hauptteil formuliere:

Fast jeder wird das schon erlebt haben, dass die Nacht hereinbricht und man einen Stern funkeln sieht. Manchmal muss man noch einmal hinschauen, ob es wirklich ein Stern war. Dehmel erfasst diese Situation, indem er in I,3 schreibt, dass „ein Stern zu funkeln (versucht)”. Meist sucht man dann noch nach weiteren und findet sie auch recht schnell. Nacht und Sterne bringen in aller Regel Ruhe und Frieden, doch hier wird auch etwas aufgeregter, schneller, die Grillen nämlich (vgl. I, 4).

Wenn Dir die Komparative aufgefallen sind, dann solltest Du auch auf sie verweisen, denn sie sind ein grammatikalisches Faktum; Du kannst natürlich auch schon schreiben, dass sich das ganze Geschehen offensichtlich steigert. Das entspricht ja den Tatsachen; die Komparative bringen das mit sich.
Zugleich kannst Du sie als Möglichkeit der Überleitung zur nächsten Strophe nutzen, beispielsweise so - ich beginne mit einem eben schon verwendeten Satz:



Nacht und Sterne bringen in aller Regel Ruhe und Frieden, doch hier wird auch etwas aufgeregter, schneller, die Grillen nämlich (vgl. I,4). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass beide in der ersten Strophe vorkommenden Adjektive im Komparativ stehen, also eine Steigerung beinhalten. Das gilt übrigens auch für die zweite Strophe. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass auch hier alle Adjektive in der ersten Steigerungsstufe stehen.


Schon bist Du mit Hilfe der Bezugnahme auf die gesteigerten Adjektive in der zweiten Strophe und das ohne eine langweilige Formulierung wie:

In der zweiten Strophe finden wir das lyrische Ich weiterhin unterwegs . . .

Eines aber möchte ich nochmals betonen: Begib Dich nicht zu schnell in eine Interpretation, indem Du sofort allem einen tieferen Sinn zu geben versuchst. Das könnte sonst Wege zu einem angemessenen und wirklich tiefen Verständnis des Gedichtes verstellen. (...)

Soweit der Buchauszug.
Natürlich werden der Gebrauch von Textverweisen und das Zitieren auf den folgenden Seiten gründlich erklärt!

zum Buchauszug II


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